Die verbotenen Kinderbücher der DDR

Der kleine Prinz Buch

Wenn man an die DDR denkt, kommen einem Begriffe wie Mangelwirtschaft, Planerfüllung oder Staatskontrolle in den Sinn. Doch dass selbst Kinderbücher Teil dieser Kontrolle waren, klingt fast absurd – und ist doch bittere Realität. Geschichten, die eigentlich Freude, Fantasie und Geborgenheit schenken sollten, konnten verboten werden, wenn sie „politisch nicht korrekt“ erschienen. Viele dieser Bücher verschwanden aus Regalen, aus Bibliotheken, ja sogar aus Kinderzimmern. Heute sind sie fast vergessen – stille Opfer einer Zeit, in der selbst Märchen gefährlich sein konnten.


Ein harmloses Märchen, ein großes Problem

Ein Beispiel aus den 1960er-Jahren: Ein Kinderbuch erzählte die Geschichte eines Jungen, der sich weigert, den gleichen Beruf wie sein Vater zu ergreifen, und stattdessen die Welt bereisen will. Ein harmloses Märchen über Neugier und Selbstbestimmung – sollte man meinen. Doch die Behörden sahen darin eine „ideologische Gefahr“. Individualismus galt als westlich, gefährlich, staatszersetzend. Das Buch wurde eingezogen, Exemplare vernichtet. In den Archiven tauchen Vermerke auf: „nicht im Einklang mit den Erziehungszielen der DDR“. Ein Satz, der genügte, um eine ganze Auflage verschwinden zu lassen.

Der Giftschrank der Literatur

Solche Bücher landeten im sogenannten „Giftschrank“. Das waren Abteilungen in Bibliotheken, in denen verbotene Literatur aufbewahrt wurde. Nicht nur politische Schriften, auch Kinderbücher. Die Öffentlichkeit hatte keinen Zugang, nur ausgewählte Mitarbeiter durften die Titel verwalten. Für viele Eltern war das ein Schock. Man hatte das Buch gekauft, vielleicht schon begonnen vorzulesen – und plötzlich hieß es, man dürfe es nicht mehr besitzen. Manche gaben es ab, andere versteckten es in Schubladen oder auf Dachböden.

Ein Vater aus Dresden erzählte später: „Wir hatten ein Bilderbuch, das plötzlich verschwinden sollte. Ich habe es in Zeitungspapier eingeschlagen und hinter dem Schrank versteckt. Meine Tochter hat es trotzdem immer wieder gefunden. Sie liebte die Geschichte. Ich wusste: Wenn uns jemand erwischt, gibt es Ärger. Aber ich konnte ihr das Buch nicht nehmen.“

Schmuggel über die Grenze

Manche dieser verbotenen Bücher tauchten im Westen wieder auf. Dort wurden sie gedruckt, von Verlagen unterstützt, die DDR-kritische Stimmen verstärken wollten. Und von dort schafften es einige Exemplare zurück – über Pakete von Verwandten oder heimlich über die Grenze gebracht. Für die Kinder, die solche Bücher in den Händen hielten, war das ein Abenteuer. Sie verstanden die politische Tragweite nicht, für sie war es einfach eine schöne Geschichte. Aber die Eltern wussten: In diesen Seiten lag ein Stück Freiheit.

Kinder gegen Kontrolle

Das Kuriose: Manche Kinder selbst bemerkten gar nicht, wie politisch ihre Bücher bewertet wurden. Für sie war das Lesen ein Eintauchen in Fantasiewelten. Ein kleiner Junge, der im Märchen seinen eigenen Weg geht, war für sie ein Held. Für den Staat war er ein Feindbild. So wurde selbst das Vorlesen zu einer stillen Rebellion. Eltern, die verbotene Bücher aufschlugen, zeigten ihren Kindern unbewusst, dass es auch andere Werte gab: Mut, Selbstbestimmung, Abenteuerlust. Werte, die nicht in den Plan passten.

Vergessene Schätze

Heute sind viele dieser Bücher vergriffen, nur antiquarisch oder in Archiven zu finden. Titel wie Der kleine Trommler ohne Trommel oder Geschichten vom eigenwilligen Hans tauchen nur noch in Sammlungen auf. Manche Exemplare sind so selten, dass sie auf Flohmärkten wie kleine Kostbarkeiten gehandelt werden. Doch ihr Wert ist nicht nur materiell. Sie sind Zeitzeugen. Sie zeigen, wie eng das Leben damals kontrolliert wurde, wie weit die Hand des Staates reichte – bis ins Kinderzimmer, bis ins Bett, wo Eltern abends Geschichten vorlasen.

Märchen als Freiheit

Wenn ich heute in einer alten Bibliothek blättere und eines dieser Bücher finde, habe ich das Gefühl, in eine andere Zeit einzutauchen. Die Zeichnungen wirken unschuldig, die Texte einfach – und doch schwingt zwischen den Zeilen etwas mit. Ein Flüstern, das sagt: „Wir wollten mehr sein, als wir durften.“ Vielleicht ist das die eigentliche Kraft dieser verbotenen Kinderbücher. Sie erinnern uns daran, dass Fantasie nicht zu kontrollieren ist. Dass Geschichten stärker sein können als Verbote. Und dass selbst in einer Zeit voller Mauern kleine Bücher Wege in die Freiheit öffnen konnten.

Verbotene Kinderbücher der DDR – Übersicht

„Schnüpperle – Geschichten aus der Kinderzeit“

  • Autorin: Barbara Bartos-Höppner (BRD, 1950er/60er Jahre)
  • Inhalt: Eine Sammlung von Geschichten rund um den kleinen Schnüpperle und seine Familie. Alltägliche Kindheitserlebnisse, liebevoll, humorvoll, familiär.
  • Warum verboten? Die Geschichten vermittelten „bürgerliche Familienideale“ und galten als zu westlich. Der Vater war Autorität, die Mutter Hausfrau, ein Bild, das nicht ins Frauen- und Gesellschaftsbild der DDR passte.
  • Folge: Anfangs noch erhältlich, später stillschweigend aus Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt.
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Das große Schnüpperle-Geschichtenbuch: (Sonderausgabe)
Das große Schnüpperle-Geschichtenbuch: (Sonderausgabe)
Bartos-Höppner, Barbara(Autor)
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„Der kleine Prinz“

  • Autor: Antoine de Saint-Exupéry (Frankreich, 1943)
  • Inhalt: Philosophisches Märchen über einen Jungen von einem fremden Planeten, der mit kindlichem Blick die Welt der Erwachsenen hinterfragt.
  • Warum verboten? „Individualistisch“ und „bürgerlich-dekadent“. Der kleine Prinz stellte Werte wie Liebe, Freundschaft und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt, im Gegensatz zur kollektivistischen Erziehungsideologie der DDR.
  • Folge: Offiziell nicht im DDR-Buchhandel. Nur über Westpakete, private Abschriften oder später nach der Wende regulär verfügbar.

„Winnie-the-Pooh“ (Pu der Bär)

  • Autor: A. A. Milne (Großbritannien, 1926)
  • Inhalt: Geschichten über den Bären Winnie und seine Freunde im Hundertmorgenwald – Fantasie, Freundschaft, kleine Abenteuer.
  • Warum verboten? Galt als „westlich-dekadent“ und „realitätsfern“. DDR-Kinderbücher sollten lehrreich und gesellschaftlich nützlich sein, nicht „unpolitische Träumereien“ fördern.
  • Folge: Nicht offiziell erschienen, aber über Verwandte aus dem Westen bekannt. Manche Eltern lasen ihren Kindern Westausgaben heimlich vor.
AngebotBestseller Nr. 1
Pu der Bär: Aus d. Engl. v. Harry Rowohlt (Dressler Klassiker)
Pu der Bär: Aus d. Engl. v. Harry Rowohlt (Dressler Klassiker)
Milne, Alan A(Autor)
7,50 EUR −4,00 EUR 3,50 EUR

„Die Söhne des Großen Bären“

  • Autorin: Liselotte Welskopf-Henrich (DDR, erste Auflage 1951)
  • Inhalt: Romanzyklus über das Leben nordamerikanischer Indianer. Abenteuer, Widerstand, Freiheit.
  • Warum problematisch? Die erste Auflage wurde als „nicht klar genug im Klassenstandpunkt“ kritisiert. Die Indianer-Geschichten wurden als „zu romantisierend“ eingestuft. Später überarbeitete Welskopf-Henrich die Texte, passte sie an die Ideologie an – und die Bücher wurden zu DDR-Bestsellern.
  • Folge: Erst verboten, dann nach Anpassung erlaubt – ein Beispiel dafür, wie Bücher in der DDR „umgeschrieben“ wurden, um ins Bild zu passen.
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In der DDR galt: Kinderbücher mussten erziehen. Sie sollten den „neuen sozialistischen Menschen“ fördern. Individuelle Freiheit oder „bürgerliche Werte“ waren unerwünscht. West-Bücher waren generell verdächtig – außer sie ließen sich ideologisch vereinnahmen. Viele Eltern umgingen die Verbote – sie versteckten Bücher, liehen sie unter der Hand oder bekamen sie als Westpakete. Für die Kinder waren es einfach Geschichten. Für den Staat waren es Gefahren.

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